Zwiegespräch über »unbestimmte Weite« (III)

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12. Februar 2022 von ibohnet

Im Jahr 2006 führte die Künstlerin und Musikerin Bärbel Zindler im Rahmen des Ausstellungsprojekts METANOMIE in der Städtischen Galerie im Buntentor Bremen eine Reihe von Gesprächen mit ausgewählten Personen, darunter der Physiker Thomas W. Kraupe, die Philosophin Birgit Recki, der Pastor Ulrich Hentschel, die Künstlerinnen Antje Oertling-Kappenberg und Corinna Siebert, und eben auch meine Wenigkeit (als Physiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen-Elektronen Synchrotron DESY in Hamburg).

ANTWORTBRIEF VON ILJA BOHNET (11. August 2006)

Liebe Frau Zindler,

die physikalische Wissenschaft besagt, dass die uns umgebende Welt aus wenigen Grundbausteinen zusammengesetzt ist. Das ihr zugrundeliegende Kochrezept mit seinen Ingredienzien und Wechselwirkungen lässt sich bequem auf einer DIN-A4 Seite auflisten. Dieser sinnlich schwer zu begreifenden Zusammenfassung stellen Sie in Ihrem Brief Immanuel Kants Auffassungen von Raum und Zeit aus seiner ›Kritik der reinen Vernunft‹ gegenüber.

In der von Ihnen zitierten »Auflösung der kosmologischen Idee« geht Kant von der »Totalität der Zusammensetzung der Erscheinungen von einem Weltganzen« hinaus in den Makrokosmos, also in das unendlich Große, hingegen beschreitet er den Mikrokosmos, also das unendlich Kleine bei seiner Betrachtung der »Totalität der Teilung eines gegebenen Ganzen in der Anschauung«. Die darin beschriebenen Auffassungen von Raum und Zeit als Eigenschaften unserer Wahrnehmung können meiner Meinung nach letztlich der naturwissenschaftlichen Kritik nicht standhalten. Die Relativitätstheorie, die sich mit der Struktur von Raum und Zeit befasst, sieht diese Größen als physikalische Eigenschaften der Materie, also letztlich als Strukturmerkmale und Energieverhältnisse der oben benannten Grundbausteine. Wie aber auch sollte den Kants ›Kritik der reinen Vernunft‹, die selbst erst die Grundlage bildete für die Ausformung der heutigen Wissenschaften, deren Erkenntnisse Hunderte Jahre später vorwegnehmen? Daher erscheint es mir notwendig zwischen Raum und Zeit im Sinne der Relativitätstheorie bzw. im Sinne von Kants sinnlich erfahrbaren Anschauungsformen zu unterscheiden, wobei diese möglicherweise als komplementäre Betrachtungsweisen nebeneinander bestehen mögen.

Die folgende von dem Physiker Victor Weisskopf überlieferte Anekdote mag als ein Beispiel für zwei komplementäre Betrachtungsweisen dienen, die völlig gleichberechtigt nebeneinanderstehen:

Felix Bloch und Werner Heisenberg diskutierten über Probleme der Physik, und Bloch berichtete Heisenberg über einige neue Ideen im Hinblick auf bestimmte mathematische Strukturen des Raumes, als Heisenberg, dessen Geist auf einen komplementären Erfassungsweg abgestreift war, ausrief: der Raum ist blau und es fliegen Vögel in ihm!

Victor Weisskopf

Ist die Möglichkeit der komplementären Betrachtungsweisen der Welt nicht die Ursache für viele wunderbare, manchmal vielleicht unheilvolle Missverständnisse?

Viele Grüße

Ihr Ilja Bohnet

PS: Briefe, Interviews und Artefakte wurden als Beitrag zur Ausstellung METANOMIE des Künstlerinnenverbandes Bremen vom 9. September bis 3. Oktober 2006 in der städtischen Galerie am Buntentor in Bremen gezeigt. Als Apokryphen wurde auch das Radio-Feature Grenzen und Optionen der Naturwissenschaft von Ilja Bohnet & Bernhard Kaufmann erstmals präsentiert (eine Hörspielproduktion vom FSK, Hamburg, 1999, vorgestellt auch in dem von der Helmholtz-Gemeinschaft kuratierten Podcast Wissenschaft auf die Ohren, Berlin, 2019, hörbar auf SoundCloud).

Ein Kommentar zu “Zwiegespräch über »unbestimmte Weite« (III)

  1. ibohnet sagt:

    Mein Kollege, Freund und Co-Autor des Buches ›Das rätselhafte Universum‹ , der Teilchenphysiker Thomas Naumann, machte mich heute auf Folgendes aufmerksam:

    Kant, ›Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte‹, 1747: »Es ist wahrscheinlich, daß die dreifache Abmessung des Raumes von dem Gesetze herrühre, nach welchem die Kräfte der Substanzen in einander wirken.
    Die dreifache Abmessung scheint daher zu rühren, weil die Substanzen in der existirenden Welt so in einander wirken, daß die Stärke der Wirkung sich wie das Quadrat der Weiten umgekehrt umgekehrt verhält.«

    Kaum vorstellbar, dass er sich das ausgedacht hat… Er hat also die Erkenntnisse der modernen Physik gewissermaßen vorweggenommen…

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