Zwiegespräch über »unbestimmte Weite« (II)

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12. Februar 2022 von ibohnet

Im Jahr 2006 führte die Künstlerin und Musikerin Bärbel Zindler im Rahmen des Ausstellungsprojekts METANOMIE in der Städtischen Galerie im Buntentor Bremen eine Reihe von Gesprächen mit ausgewählten Personen, darunter der Physiker Thomas W. Kraupe, die Philosophin Birgit Recki, der Pastor Ulrich Hentschel, die Künstlerinnen Antje Oertling-Kappenberg und Corinna Siebert, und eben auch meine Wenigkeit (als Physiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen-Elektronen Synchrotron DESY in Hamburg).

ANSCHREIBEN UND FRAGEN VON BÄRBEL ZINDLER (27. Juni 2006)

Lieber Herr Dr. Bohnet,

in der Antike war Demokrit (460 – 371 vor Chr.) der Überzeugung, dass Materie nicht unendlich teilbar sei; er entwickelte eine Auffassung, nach der es Atome als nicht weiter teilbare Grundbausteine der Materie gibt. Ernest Rutherford fand heraus, dass Atome nicht massiv sind, sondern »aus einem elektrisch positiv geladenen Kern und einer negativen Hülle bestehen.« Das bedeutet, Atome (von griechisch átomo »unteilbar«) sind nicht die kleinsten, nicht mehr weiter teilbaren Einheiten, sondern enthalten selbst noch kleinere Teilchen.

Heute geht man von 48 Elementarteilchen aus, die sich unter anderem in ihrer Masse, ihrer elektrischen Ladung und von welchen Kräften sie angezogen oder abgestoßen werden, unterscheiden. Die vier grundlegenden Kräfte sind: Gravitationskraft, elektromagnetische Kraft sowie starke und schwache Kernkraft. Es werden drei Teilchenfamilien unterschieden. Zum Aufbau der Materie des Universums genügt die erste Teilchenfamilie, die aus Elektron, Neutrinos sowie den Up- und Down-Quarks (mit jeweils drei Unterarten) besteht. Zu diesen acht Teilchen gibt es jeweils ein Antiteilchen.

Dieser sehr verkürzten und für mich mit vielen Fragezeichen bzw. Unbekannten versehenen Zusammenfassung möchte ich ein Zitat von Kant gegenüberstellen:

Ein jeder in seinen Grenzen angeschauter Raum ist ein solches Ganzes, dessen Teile bei aller Dekompensation immer wiederum Räume sind, und ist daher ins unendliche teilbar. Hieraus folgt auch ganz natürlich die zweite Anwendung, auf eine in ihren Grenzen eingeschlossene äußere Erscheinung (Körper). Die Teilbarkeit desselben gründet sich auf die Teilbarkeit des Raumes, der die Möglichkeit des Körpers, als eines ausgedehnten Ganzen, ausmacht. Dieser ist also ins Unendliche teilbar, ohne doch darum aus unendlich vielen Teilen zu bestehen.

(Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft)

Wenn ich Kants Gedankengang nachzeichne, begründet er seine Auffassung folgendermaßen:

  • Ein Ganzes kann unendlich aufgeteilt werden: »Da dieser Regressus unendlich ist, so sind zwar alle Glieder (Teile), zu denen er gelangt, in dem gegebenen Ganzen als Aggregate enthalten, …«
  • … aber erst der Regressus verwirklicht die Teilung, die dann nicht mehr unendlich sein kann: »… aber nicht die ganze Reihung der Teilung, welche sukzessiv unendlich und niemals ganz ist, folglich keine unendliche Menge, und keine Zusammenfassung derselben in einem Ganzen darstellen kann.«

Am Ende des Textabschnitts über die Teilung eines gegebenen Ganzen in der Anschauung unterscheidet Kant das »«Quantum Continuum»« und das »«Quantum Discretum»«. Das Quantum Kontinuum sei abhängig vom eingebettet sein in den Raum, das den Grund für unendliche Teilbarkeit darstelle; wie weit diese Teilung gehe (nämlich den empirischen Regressus niemals für vollendet zu halten), sei kein Erfahrungsgegenstand, sondern ein Prinzipium der Vernunft. Das Quantum Discretum dagegen ist etwas, das nur in der Erfahrung vermittelt werden kann, um mit einer Zahl verknüpft ist; hier geht es um die Teilbarkeit eines Körpers, dessen Menge der Teile nicht unendlich ist.

Sehen Sie Verbindungen oder Widersprüche zwischen Kants Auffassung von unendlicher Teilbarkeit und heutigen Erkenntnissen in der Physik der Teilchen?

Mit herzlichen Grüßen

Bärbel Zindler

PS: Briefe, Interviews und Artefakte wurden als Beitrag zur Ausstellung METANOMIE des Künstlerinnenverbandes Bremen vom 9. September bis 3. Oktober 2006 in der städtischen Galerie am Buntentor in Bremen gezeigt. Als Apokryphen wurde auch das Radio-Feature Grenzen und Optionen der Naturwissenschaft von Ilja Bohnet & Bernhard Kaufmann erstmals präsentiert (eine Hörspielproduktion vom FSK, Hamburg, 1999, vorgestellt auch in dem von der Helmholtz-Gemeinschaft kuratierten Podcast Wissenschaft auf die Ohren, Berlin, 2019, hörbar auf SoundCloud).

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