Zwiegespräch über »unbestimmte Weite« (V)
Hinterlasse einen Kommentar12. Februar 2022 von ibohnet
Im Jahr 2006 führte die Künstlerin und Musikerin Bärbel Zindler im Rahmen des Ausstellungsprojekts METANOMIE in der Städtischen Galerie im Buntentor Bremen eine Reihe von Gesprächen mit ausgewählten Personen, darunter der Physiker Thomas W. Kraupe, die Philosophin Birgit Recki, der Pastor Ulrich Hentschel, die Künstlerinnen Antje Oertling-Kappenberg und Corinna Siebert, und eben auch meine Wenigkeit (als Physiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen-Elektronen Synchrotron DESY in Hamburg).
ANTWORTBRIEF VON ILJA BOHNET (25. August 2006)
Liebe Frau Zindler,
von meinem »friedenstiftenden« Versuch angeregt, die verschiedenen Sichtweisen und Interpretationen von Raum und Zeit (beispielsweise im Sinne der Relativitätstheorie oder aber im Sinne von Kants sinnlich erfahrbaren Anschauungsformen) als komplementäre Betrachtungsweisen einfach nebeneinander zu stellen, schalten Sie diesen Gedankengang konsequent weiter voran und fragen, ob es denn überhaupt eine wirklichkeitsadäquate Darstellung geben könne oder ob wir in diesem Kontext stattdessen nur noch von Konstellationen sprechen dürften, die jeweils eine eigene Wirklichkeit bilden, ohne etwas abzubilden? Sie stellen damit meines Erachtens eine der schwierigsten Fragen überhaupt, nämlich die Frage nach der Wirklichkeit.
Dazu fällt mir spontan der wundersame Film ›Rashomon‹ des japanischen Regisseurs Akira Kurosawa aus dem Jahr 1950 ein:
In einem »Wald der Dämonen« überfällt ein Bandit einen Samurai, fesselt ihn und vergewaltigt vor seinen Augen dessen Frau. Danach tötet er den Samurai. Vor einem imaginären Gerichtshof schildern danach der Räuber, die Frau und, durch den Mund einer Geisterbeschwörerin, auch der getötete Samurai den Hergang der Tat, aber jeder erzählt eine andere Geschichte. Doch die Tat hat noch einen weiteren Zeugen, einen Arm Holzfäller, die gemeinsam mit anderen Gefährten unter dem halb zerfallenden Raffinement-Tor bei Kyoto Zuflucht vor dem Regen gesucht hatte und nun seine Version der Geschichte erzählt – die Wahrheit?
In einem »Wald der Dämonen« überfällt ein Bandit einen Samurai, fesselt ihn und vergewaltigt vor seinen Augen dessen Frau. Danach tötet er den Samurai. Vor einem imaginären Gerichtshof schildern danach der Räuber, die Frau und, durch den Mund einer Geisterbeschwörerin, auch der getötete Samurai den Hergang der Tat, aber jeder erzählt eine andere Geschichte. Doch die Tat hat noch einen weiteren Zeugen, einen armen Holzfäller, die gemeinsam mit anderen Gefährten unter dem halb zerfallenden Rashomon-Tor bei Kyoto Zuflucht vor dem Regen gesucht hatte und nun seine Version der Geschichte erzählt – die Wahrheit?
Rashomon – Das Lustwäldchen, Quelle: Wikipeadia
Die Wirklichkeit (lateinisch actualitas) entspricht der Gesamtheit der Vorstellung-, Denk-, Gefühls-und Wahrnehmungsinhalte, die das Erleben und Verhalten eines Individuums bestimmen. Das meint das einzelne Wirkliche genauso wie »den Zusammenhang der Dinge, welche die gegenwärtige Welt ausmacht« (Christian Wolff). Georg Hegel unterschied dabei die wahre Wirklichkeit von der alltäglichen. In jedem Fall ist die Wirklichkeit nicht identisch mit der Realität, die unabhängig von der Wirklichkeit bestehen kann. Insofern berührt der von Ihnen zitierte Paul Good mit seiner Frage nach dem erleben der Zeit sehr wohl ein Aspekt der Wirklichkeit, auch wenn sie sich klar aus dem Rahmen der Realität heraus bewegt, ja vielleicht ganz bewusst von ihm sogar außerhalb dieses Rahmens gestellt worden ist. Und meiner Meinung nach kennen wir alle auch Antworten darauf, nämlich das ganz individuell erlebte Erleben von Zeit. Die Naturwissenschaft mit ihren speziellen Fragestellungen fokussiert dagegen ausschließlich auf die Realität, Antworten in einem ganzheitlichen Sinne liefert sie nur indirekt und ungewollt. Die Wissenschaft untersucht die Regeln, denen das Universum und das menschliche Leben gehorchen, den Sinn ihrer Existenz vermag sie alleine jedoch sicherlich nicht zu setzen.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen für die kommende Ausstellung alles Gute
Ihr Ilja Bohnet
PS: Briefe, Interviews und Artefakte wurden als Beitrag zur Ausstellung METANOMIE des Künstlerinnenverbandes Bremen vom 9. September bis 3. Oktober 2006 in der städtischen Galerie am Buntentor in Bremen gezeigt. Als Apokryphen wurde auch das Radio-Feature Grenzen und Optionen der Naturwissenschaft von Ilja Bohnet & Bernhard Kaufmann erstmals präsentiert (eine Hörspielproduktion vom FSK, Hamburg, 1999, vorgestellt auch in dem von der Helmholtz-Gemeinschaft kuratierten Podcast Wissenschaft auf die Ohren, Berlin, 2019, hörbar auf SoundCloud).
Kategorie: Kunst und Wissenschaft, Rätsel der Physik, Wissenschaftsgeschichte | Schlagwörter: Akira Kurosawa, Bärbel Zindler, Christian Wolff, Georg Hegel, Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Rashomon, Raum und Zeit, Weltbild, Wirklichkeit