Mein Morgenmantel im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit…
Hinterlasse einen Kommentar17. Dezember 2022 von ibohnet
Unter den Kleidungsstücken des Menschen nimmt der Morgenmantel eine herausgehobene Stellung ein.
Aus vier Gründen:
Erstens ist der Morgenmantel Ausdruck einer luxuriösen Ausstattung. Einen Morgenmantel hat man nicht einfach nur so, sondern man hat ihn „obendrauf“. Denn der Morgenmantel ist kein unbedingt notwendiges Textil, er ist Luxus, er erleichtert das Leben ungemein, er macht – streng genommen – das Leben erst lebenswert.
Zweitens ist der Morgenmantel allumfassend – im wahrsten Sinne des Wortes. Er überdeckt nicht nur den Oberkörper oder den Unterkörper, sondern den gesamten Körper einschließlich der Arme. Er ist eben ein richtiger Mantel, ein Morgenmantel, wärmend, Geborgenheit spendend, angenehm auf der nackten wie angezogenen Haut.
Drittens ist der Morgenmantel beides: privates wie öffentliches Kleidungsstück. Privat insofern, als dass man den Morgenmantel selbstverständlich zu Hause und im Privaten trägt. Wenn man beispielsweise zum Frühstückstisch geht nach dem Aufstehen. Oder aus dem Bad kommt und schnell einen Morgenmantel überzieht. Öffentlich ist der Morgenmantel insofern, als dass man mit ihm selbstverständlich das Einschreiben, das einem ein Postbote überbringt, entgegennehmen kann (siehe zum Beispiel Ray Banana). Es verwundert auch nicht, wenn man beispielsweise als öffentliche Person frühmorgens im Morgenmantel vor die Tür seines Hauses tritt, um bei einer spontan einberufenen Pressekonferenz Fragen zu beantworten (wie zum Beispiel Kapitän Haddock in „Tim und die Picaros“). Mit einem ordentlichen Morgenmantel über den Pyjama gezogen, ist das möglich. Ein Erscheinen nur im Pyjama ist dagegen ein „no go“, man wäre quasi unbekleidet.
Viertens ist der Morgenmantel insofern auch ein besonderes Kleidungsstück, weil man in seinem Leben gar nicht so viele davon hat. Ich behaupte, vielleicht fünf in meinem bisherigen Leben besessen zu haben. Und den, den ich jetzt trage, habe ich so lieb geworden, dass ich mich wirklich nicht mehr von ihm trennen möchte, obwohl er die wohlwollende Hand eines Schneiders dringend benötigen würde (denken wir auch an Graf Krolock und seinen Morgenmantel in: „Tanz der Vampire“).
Kurz: Der Morgenmantel ist ein fantastisches Kleidungsstück, dem ich mit diesem Blog-Beitrag huldigen möchte. Und in Anspielung auf Walter Benjamins „Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“: auch der Morgenmantel ist reproduzierbar, aber der eigene, ganz persönliche Morgenmantel, den man über so viele Jahre lang trägt, erlangt eine Patina, hat etwas Einmaliges an sich, ist schlicht unersetzbar…