10 Fragen zum Tatmotiv – heute an Birgit Hofmann

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26. Juni 2022 von ibohnet

Eine Gesprächsreihe mit Schriftstellern, Künstlern, Wissenschaftlern rund um das persönliche Motiv ihres kulturellen Schaffens. Heute mit der Kulturwissenschaftlerin Birgit Hofmann.

Im Mittelpunkt des vorliegenden Blog-Beitrags steht die Kulturwissenschaftlerin Birgit Hofmann. Sie hat Geschichte, Germanistik und Politikwissenschaft studiert und wurde im Bereich Politikwissenschaft promoviert, arbeitete als Historikerin und Kulturwissenschaftlerin am Lehrstuhl für Zeitgeschichte der Universität Heidelberg, blieb aber stets stark mit Literatur, Prosa und Lyrik verwurzelt und ist überdies selbst belletristisch aktiv. Unter anderem betreibt sie den Blog Kafka sagt Ja.

Die Gratwanderin

1. Sie sind Germanistin, Politikwissenschaftlerin, Historikerin und Kulturwissenschaftlerin, überdies belletristisch aktiv. Sie bewegen sich also im Spannungsfeld Wissenschaft und Kunst. Welche Faszination übt auf Sie die (Kultur-)Wissenschaft aus, und was macht demgegenüber ein Gedicht mit Ihnen?

In der von uns Menschen eingerichteten Wirklichkeit gibt es Gewalt, Hass, Diktatur. Wissenschaft ist für mich der Versuch, diese Realität zu analysieren und damit gedanklich zu überwinden. Literarisch habe ich oft über „müde Tyrannen“ geschrieben, frühe Texte handelten von surrealen Gewaltsystemen und der Frage, warum Menschen sie errichten oder erleiden. Ein Gedicht bietet Verstehen auf andere Art: Es vermittelt uns etwas schwerer Greifbares – durch die Sprache selbst, die uns durch das, was ist, hindurchsehen lässt. Paul Celans Gedichte, die oft vom Holocaust und der Gewalt des 20. Jahrhunderts handeln, eröffnen diesen Raum des Verstehens.

2. Wann und wie sind Sie zum Schreiben gekommen, oder andersherum gefragt: Was war zu erst da, die Faszination für Wissenschaft, oder die für die Kunst?

Geschrieben habe ich schon als Kind, ich zeichnete auf, was meine Eltern sagten, versteckt hinter der Tür. Schreiben war zuerst Rettung, ein magischer Akt der Bannung von Angst aufs Papier. Meine erste längere Geschichte handelte von einer Frau, die nach Hause kommt nach einer Verabredung, und alles um sie herum hört auf, verschwindet. Zugleich las ich früh Zeitungen, ich sammelte sie in großen Stapeln in meinem Zimmer, wie es mein Großvater tat, der immer Kommentare an den Rand schrieb. Aus der Bibliothek meiner Eltern, in der Stadtbücherei zogen mich früh Bücher über Geschichte an.

3. Wie finden Sie Ihre Motive als Wissenschaftlerin, als Lyrikerin?

Das ist eine interessante Frage, ich habe das Gefühl, dass sie schon einfach da sind, sich mir aufdrängen. Das sind einmal die großen Fragen und Themen, die mich beschäftigen, etwa Gewalt und Utopie und das Umschlagen des einen ins andere; die Diktaturen des 20. Jahrhunderts, politische Religionen. Aber für die Miniaturen und kürzeren Texte ist oft Visuelles der Ausgangspunkt –  oder Beobachtungen im Alltag. Sehr gern male oder fotografiere ich, und wenn ich mir dann den Ausschnitt ansehe, den ich festgehalten habe, ist spontan eine Geschichte dazu da, so etwa bei der Reihe „fiktive Orte“, in der ich reale Gegenden, Häuser, Städte verfremde und gleichsam für mich reklamiere, indem ich ihnen Erfundenes zuschreibe. Es handelt sich um eine Art lyrische „Landnahme“.

4. Gibt es ein spezifisches, immer wiederkehrendes Thema, das Sie disziplinübergreifend in Ihrer Arbeit beschäftigt?

Einige Motive waren immer schon da, vielleicht durch Eltern und Großeltern, durch das Aufwachsen in diesem Land im 20. Jahrhundert, ein Interesse an Osteuropa etwa, an Böhmen besonders, an Arbeiterbewegung und Weimarer Republik. Über die Geschichte des Antisemitismus und des Holocaust schreibe ich nur wissenschaftlich. Als Kind habe ich begonnen, Erfahrungsberichte und Literatur von Überlebenden zu lesen. Hier kann ich literarisch nichts hinzufügen, das maße ich mir nicht an. Viel habe ich mich mit dem Kommunismus als Utopie und Gewaltsystem beschäftigt. In meiner Doktorarbeit geht es um den „Prager Frühling“. Alexander Dubčeks Gesicht verkörpert für mich immer das „menschliche Antlitz“, das man seiner Variante des Sozialismus zuschrieb. Walter Benjamin sprach davon, dass der Geschichte „nichts, was sich jemals ereignete“, verloren gehe. Joseph Roth hat in der Frühphase der Sowjetunion nach einer Reise einen wunderbaren Text über den „lieben Gott in Russland“ geschrieben. Alles ist scheinbar gut, der Sozialismus da, aber der liebe Gott geht herum, schaut sich die Ränder an, das Schmutzige, Traurige, Unerlöste.

5. Welche kulturwissenschaftlichen Vorbilder haben Sie, und welche literarischen?

Die Schriftsteller, die mir viel bedeuten, stammen fast alle aus der untergegangenen K. u. K.-Monarchie, viele sind jüdischer Herkunft. Neben Joseph Roth, der aus Enttäuschung über den Sozialismus bekanntlich Monarchist wurde, zählt etwa Arthur Schnitzler, der als jüdischer Arzt im späten Roman „Therese“ auch seine eigene damals privilegierte Rolle als Hausherr eines Dienstmädchens reflektierte, zu meinen Lieblingsschriftstellern. Paul Celan natürlich, den ich für den größten Dichter des 20. Jahrhunderts halte, Ingeborg Bachmann, die zeitweise seine Geliebte war, Kind eines Nationalsozialisten, aber mit Gespür für die Verwerfungen der Zeit, die sie in „früher Mittag“ in eine lyrische Form brachte. Walter Benjamins Miniaturen über seine Kindheit in Berlin fangen das Große im Kleinen ein, sein „Moskauer Tagebuch“ lese ich immer wieder, ohne seine, allerdings eher unbeholfene, Revolutionsbegeisterung, die schon Schlieren der Ernüchterung durchzog, zu teilen. Und natürlich immer wieder Franz Kafka, sein Fragment „Amerika“ ist überraschend witzig und zeigt die Utopie eines Orts, an dem alle Eingang finden. Kulturwissenschaftlich sind mir Adorno/Horkheimer am wichtigsten, Hannah Arendt analysierte für mich am eindrücklichsten, wie es zu Barbarei und Totalitarismus kommen konnte. Ich verehre Friederike Mayröcker, von der ich immer glaubte, sie sei unsterblich. Peter Kurzeck hielt das Verstreichen der Zeit in einer ganz eigenen, leicht scheinenden Schwingung fest, Annie Ernaux verbindet das biographische Schreiben mit einer soziologischen Betrachtung von Weiblichkeit, Armut, Klassismus und Demütigung. Alle sind aber unerreichbare Vorbilder, letztlich.

6. Was macht für Sie gutes Schreiben, gute Schriftstellerei aus? Und/oder alternativ: Wie lautet Ihr Lieblingssatz?

„Damals war immerzu Festtag. Die Mädchen brauchten nur aus dem Haus zu treten und über die Straße zu gehen, da gerieten sie geradezu in einen Rausch; alles war, besonders nachts, so schön, daß sie, wenn sie todmüde heimkamen, noch immer hofften, daß irgend etwas passierte.“ Cesare Pavese, Der schöne Sommer

Sonst: Humor, Melancholie, ein eigener Sprachstil

7. Wie definieren Sie Zeitgeist, und welche Rolle spielt der Zeitgeist für Sie persönlich?

Zeitgeist spiegelt sich als eine Art geteilte Haltung in Büchern, Zeitungen, Comics, Filmen, in jeder Schaufensterscheibe. Ich selbst bin ein Kind der 1970er-Jahre und war jung in den Neunzigern. Wir waren, würde ich sagen, geprägt von demokratischem Aufbruch, national und später weltweit, aber auch vom Ende des „goldenen Zeitalters“ der Nachkriegszeit. Gerade erleben wir mit dem Ukraine-Krieg, aber auch mit der weltweiten Ausbreitung von Diktaturen, einen fürchterlichen Rückschlag. Doch ich hoffe auf die Wiederbelebung Europas als Haus des Friedens, auf eine Überwindung von inneren Polarisierungen. In den Gesellschaften gibt es ein Streben nach mehr Gerechtigkeit. Dabei wird aber der Universalismus teilweise für mich zu sehr in Frage gestellt.

8. Woran arbeiten Sie zurzeit?

Obwohl ich Literaturstipendiatin war, in sehr guten Literaturzeitschriften veröffentlichte, am Klagenfurter Literaturkurs teilnehmen durfte und zu Lesungen etwa in Berlin, Freiburg oder Leipzig eingeladen war, habe ich noch keinen Roman veröffentlicht. Der Schwerpunkt lag in den vergangenen Jahren immer auf der Wissenschaft. Nun stelle ich gerade „Vögel und Könige“ fertig, es geht um wilde Wellensittiche, Bohemiens, eine einsame Kinderpsychologin und um die Frage, welche Geschichten unser Leben ausmachen. Nebenbei verfasse ich immer kürzere literarische Texte für meinen Weblog „Kafka sagt Ja“

Kafka Says Yes! (kafkasagtja.blogspot.com)

9. Was würden Sie sich für Ihr eigenes Schreiben wünschen?

Zeit, Ruhe, Geld, Caféaufenthalte mit anderen Literaten

10. Welche Frage würden Sie sich überdies gerne zum Abschluss selber stellen?

Kann man über Glück schreiben? Man muss. Es ist das Schwierigste überhaupt. Glück blitzt im Moment einer Gefahr auf, im Moment der Überwältigung, von Glück ohne Kitsch schreiben zu können, das wäre wunderbar.

Liebe Birgit Hofmann, vielen Dank für das schöne Gespräch!

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