Teilchenbeschleunigung
Hinterlasse einen Kommentar17. Mai 2022 von ibohnet
Noch ist es nicht zu spät. Ich hetze die metallischen Treppenstufen im Eingangsportal des alten Elbtunnels hinunter, vorbei an stoisch dreinblickenden Porträtbüsten an der gefliesten Wand. Kein Mensch weit und breit. Die vier Fahrkörbe für die Autos schlafen noch. Nur das Klacken meiner hohen Absätze ist zu hören.
Der Aktenkoffer aus Aluminium wiegt schwer in meiner linken Hand. Wie viel Geld wohl drin ist? Die Handschelle schneidet ins Fleisch. Großartiger Einfall, mich bei dem Gerangel ums Geld an den Koffer zu ketten. Mein linker Arm ist ganz lahm vom Tragen, und die Handschelle lugt verdächtig unter dem Ärmel meiner Bluse hervor. Ob der Kerl tot ist? Ich hab ihm einen kräftigen Schlag gegen den Kopf versetzt, dass er an den Bettpfosten krachte. Aber davon stirbt man doch nicht.
Unten angekommen, blicke ich auf die beiden Tunnel mit je einer Fahrspur in der Mitte und schmalen Gehsteigen rechts und links. Ich bin allein. Ich nehme die rechte Röhre. Die schmiede eisernen Wandleuchten werfen ein warmes Licht auf die Steinzeug reliefs, die in regelmäßigen Abständen die gekachelten Tunnelwände zieren.
Gestern Abend hab ich ihn aufs Hotelzimmer gelockt und so lange bezirzt, bis er mir schließlich erzählt hat, wo sich der Laptop mit der Analyse des Physikers befindet. Irgendwo im Freihafen. Auf der LA PALOMA. Dort erwartet ihn der Hehler um halb fünf. Hat mich ganz schön Kraft gekostet, mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Bett sitzend das heiße Weibchen zu spielen, um das aus ihm rauszukitzeln.
Ich haste weiter durch den leicht gewölbten Tunnel. Das Licht der Wandleuchten links und rechts vereinigt sich an seinem Ende. Fern, noch sehr klein, sehe ich eine Gestalt. Kommt sie näher? Ich gehe weiter auf sie zu. Oder hinter ihr her? Ich zerre den Ärmel der Bluse über meine gefesselte Hand. Die Erscheinung wird größer, kommt näher. Scheiße. Wer ist das? Wir laufen aufeinander zu.
Das Klackern meiner High Heels vermischt sich mit dem Hall seines Stechschritts. Unsere Echos verschmelzen zu einem Rhythmus. Diese akustische Einheit wird lauter und lauter. Schon kann ich das Gesicht erkennen. Blond. Jung. Hart. Ich starre geradeaus, schaue dem Mann nicht in die Augen, damit er mich nicht anspricht. Dicht vor mir bleibt er stehen, zeigt auf den Koffer und sagt: »Die beste und sicherste Tarnung ist immer noch die blanke und nackte Wahrheit. Die glaubt niemand.« Dann geht er weiter.
Ich kremple den Ärmel hoch, straffe mein Kreuz und weiß, dass ich die LA PALOMA im Freihafen finden werde.
Teilchenbeschleunigung, Ariadne Krimi im Argument Verlag, Hamburg, 2012, ISBN 978-3-86754-191-6