Idealismus versus Realismus
Hinterlasse einen Kommentar10. April 2021 von ibohnet
Weshalb ich keine Antwort auf diesen bekannten Spruch habe, der dem Idealismus der Jugend den Realitätssinn im Alter entgegensetzt, obwohl mich der Spruch seit kleinauf begleitet…
Jeder Autor, der belletristisch unterwegs ist, schreibt aus einem Grundmotiv heraus (jedenfalls die besseren unter ihnen). So wird beispielsweise Graham Greene nachgesagt, dass für ihn Moral und die Auseinandersetzung damit ein besonderes Motiv beim Schreiben gewesen ist. Und ich möchte vorsichtig behaupten (ohne mich hier irgendwie mit Graham Greene messen zu wollen), dass auch ich ein solches Grundmotiv habe, dass auch mein belletristisches Schreiben von einem solchen Leitmotiv geprägt ist. Das ist nicht unbedingt die Greene‘sche Auseinandersetzung mit Moral, aber vielleicht etwas Ähnliches. Und das Interesse an meinem Leitmotiv gewann ich tatsächlich schon sehr früh, im Grunde noch bevor ich überhaupt mit dem Schreiben angefangen habe.
Mich interessierte recht bald schon das „idealistisch sein“ und die Abwendung vom eigenen Idealismus im Laufe der Jahre, im Laufe des Älterwerdens. Und ich finde dieses Thema nach wie vor unglaublich spannend, zumal ich es durch mein eigenes Älterwerden zunehmend besser verstehen kann. Tatsächlich habe ich schon in der „Nikola Rührmann“-Krimitrilogie von Bohnet Pleitgen das Thema aufgegriffen: Idealismus, Korrumpierbarkeit, das Einknicken vor den realen Tatsachen. Doch meine Faszination für diesen Stoff reicht noch weiter zurück. Bereits in meiner Kindheit und Jugend war ich fasziniert von Geschichten, die das Motiv behandeln: das Abrücken vom Idealismus der Jugendtage unter dem Druck der Realitäten, im schlimmsten Fall die Korrumpierbarkeit der eigenen Geisteshaltung. Oder das entfremdet sein von den mitunter törichten Idealen der eigenen Jugendzeit.
Die Auseinandersetzung damit fasst dieses berühmte Bonmot zusammen, das verschiedenen Persönlichkeiten der jüngeren Zeitgeschichte zugeschrieben wird (Edmund Burke, Anselme Batbie, Victor Hugo, König Oskar II. von Schweden, George Bernard Shaw, François Guizo, Georges Clemenceau, Benjamin Disraeli, Winston Churchill, und weshalb das alles Männer sind, wäre zu diskutieren). Wie auch immer, tatsächlich geht offenbar zurück auf die Äußerung eines französischen Juristen des 19. Jahrhunderts namens Anselme Polycarpe Batbie. Sinngemäß lautet es:
„Bist Du als junger Mensch kein Sozialist, hast du kein Herz. Bist du im Alter immer noch einer, hast du keinen Verstand.“
A. P. Batbie
Weshalb hat mich diese Äußerung schon in meiner Jugend bewegt? Und wieso habe ich zu keinem Zeitpunkt in meinem Leben darauf eine einfache Antwort gehabt? Wenn ich so darüber nachdenke, hatte ich dazu eine Reihe von Schlüsselerlebnissen in meinem Leben. Im realen wie im fiktiven – sprich Geschichten, die ich erlebt, oder von denen ich gelesen, gehört oder sie als Filme gesehen habe. Hier im Blog will ich bei den Filmen, Romanen und Geschichten bleiben, die in den Kontext passen.
Beginnen möchte ich, auch weil ich ihn eingangs schon nannte, mit Graham Greene und einer Geschichte von ihm, die ich besonders liebe, nämlich: „Der dritte Mann“ (kongenial verfilmt mit Orson Welles und Joseph Cotten). Eigentlich geht es in der Geschichte mehr um Freundschaft und die Schwierigkeit, eine solche aufrechtzuerhalten, wenn einer der beiden Freunde zwielichtige Dinge zu tun beginnt, sozusagen moralisch abrutscht. Trotzdem möchte ich diesen Film nennen, weil es zum einen einer meiner Lieblingsfilme ist, und weil es irgendwie auch einen Bezug gibt zu dem Thema dieses Blogbeitrags: Das Älterwerden, und plötzlich funktionieren alte Freundschaften nicht mehr so wie in der Jugend. Man orientiert sich neu, oder bleibt sich treu, wie auch immer, es kommt zum Zerwürfnis.
Ein anderer Film, der das Thema Idealismus und Korrumpierbarkeit aufgreift, ist ein italienischer Film aus den 1970er Jahren, unter anderem mit Nino Manfredi. Drei Männer und eine Frau, die als italienische Partisanen im 2. Weltkrieg gegen die Nazis kämpften und sich nach Jahrzehnten wiedertreffen. Und irgendwie scheinen sie ihren alten Idealen treu geblieben zu sein. Bis sich herausstellt, dass einer von ihnen, anders als vorgegaukelt, ein „erfolgreicher“ Kapitalist geworden ist, der seine proletarische Gesinnung nur vorspielte. Sein Fake fliegt auf, als die anderen ihm spontan einen Besuch abstatten wollen und vom Gartentor zusehen müssen, wie er in seinen Swimmingpool springt. Sie zucken die Schultern, drehen um und gehen. Die Szene ist fantastisch. Eine wunderbare Geschichte. Der Film heißt: „Wir waren so verliebt“ von Ettore Scola.
Unbedingt erwähnen muss ich zwei Comics, die mich nachhaltig beeindruckt und geprägt haben (auf meine Leidenschaft für die Abenteuer von „Tim und Struppi“ von Hergé will ich hier nicht weiter eingehen, nur dazu schnell so viel: Weil diese Comics, als ich sie als Junge las, schon Patina der Zeitgeschichte angenommen hatten, weckten sie in mir einen besonderen Blick auf die Mitte des 20. Jahrhunderts). Nein, erwähnen will ich hier zwei Hard-boiled Stories mit sozialpolitischem Tiefgang, in denen die Gesinnung der Protagonisten aufscheint wie ein schmaler Grat zwischen links und rechts, Gut und Böse, oben und unten, ohne dass sich genau sagen ließe, wo die Helden eigentlich zu verorten sind. „Griffu“ (deutsch: „Der Schnüffler“) und „Le pont de Tolbiac“ (deutsch: „Die Brücke im Nebel“).
Die besagten Comics, von denen ich jetzt sprechen möchte, entstammen der Zeichenfeder von Jaques Tardi, entwickelt nach Szenarien von Jean-Patrick Manchette und Leo Malet, zwei Kriminalromanautoren der 1970er/80er bzw. 1940er/50er Jahre. Alle drei Künstler sind inzwischen Ikonen ihres Genres. Und feststeht: Die Helden ihrer Geschichten sind nicht einfach gut oder böse. Das hat mich sehr beeindruckt zu sehen. Und das ist natürlich ein Merkmal von hard-boilded detective stories allgemein; bei denen ist nie ganz klar, auf wessen Seite der Protagonist eigentlich steht, im Grunde bloß auf seiner eigenen. Und auch in den beiden Geschichten von Manchette und Malet geht es um Protagonisten, die in ihrer Jugend hehren Idealen anhingen, die sie im Laufe der Jahre mehr weniger abgelegt haben.
(Bei der Gelegenheit möchte ich noch ein paar weitere Protagonisten aus dem Kriminalgenre nennen, auf die ähnliches zutrifft, die sich jedenfalls keiner Seite ohne weiteres zuordnen lassen. Da ist zum Beispiel Tom Ripley, der Held der bekannten Autorin Patricia Highsmith, der ganz klar seine eigene Moral verfolgt. Hercule Poirot von Agatha Christie ist dagegen sehr moralisch, womit er mitunter beim britischen Landadel aneckt. Schließlich Lindsay Gordon von Val McDermid, die auch klar ihr Ding macht. Fest steht, auch diese Protagonisten sind im Grunde genommen gesellschaftliche Außenseiter, die zwischen den Fronten stehen. Aber zurück zu den beiden Comics.)
Der Comic von Tardi mit dem Titel „Griffu“, für das Manchette das Szenario schrieb, spielt in den 1970er Jahren. Darin gerät der Held in einen ausgewachsenen Immobilienskandal. Gerard Griffu will Informationen darüber sammeln und sie zu Geld machen, und nicht, wie er selber sagt, an seine „törichten Jugendgedanken“ erinnert werden. Ein hard-boilded detektive, wie er im Buche steht, die Geschichte ein einziger Count- und Showdown, bei dem kein Auge trocken bleibt. Und der Protagonist ein echter Held, was aber seinen Preis hat.
Tardis Comic-Geschichte „Le pont de Tolbiac“ aus den 1980er Jahren wiederum entstammt der „Nestor Burma“-Krimireihe von Leo Malet, geschrieben in den 1950er Jahren, und in dieser Zeit ist die Story auch angesiedelt. Der Held von Malét ist deutlich positiver gezeichnet als der von Manchette. In besagter Geschichte wird der Protagonist mit der Erinnerung an seine Jugend konfrontiert. Nestor Burma wird von der Polizei zur Identifikation vor eine Leiche geführt, deren Identität Burma erst erkennt, als das Leichentuch beiseite geschoben wird und eine Tätowierung auf der Brust freigibt: „Nicht Gott noch Herr“ – Leitspruch der Anarchisten.
„Plötzlich war der Tote vor meinen Augen nicht mehr irgendein Toter, und ich wurde von einer Ergriffenheit überwältigt, der ich kaum Herr wurde. Seit 25 oder 30 Jahren hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Es war nicht verwunderlich, dass ich ihn nicht sofort erkannt hatte, denn seitdem hatte er sich sehr verändert. Er hatte seine Haare verloren und sich ein Bärtchen wachsen lassen. Nur sein Riechkolben war noch der gleiche.“
Lenantais heißt der Tote. Und Nestor Burma erinnert sich an das Haus der Vegetalier (also Veganer), ein Armenhaus in einem Vorstadtviertel von Paris, in dem Nestor Burma als Jugendlicher verkehrte. Ein Treffpunkt von Obdachlosen und Anarchisten, darunter auch besagter Lenantais, der wie ein väterlicher Freund für Burma gewesen ist. Später verloren sie sich aus den Augen. Und während Lenantais seinen Idealen bis zum Tode (sic!) treu blieb, machten zwei andere aus dem Haus der Vegetalier eine kapitalistische Karriere. Woraus sich die Kriminalgeschichte entspinnt im Spannungsfeld von Ideal und Korruption, die auch viel über den Autor Leo Malet und dessen Biographie verrät.
Mich jedenfalls hat diese Geschichte sehr beeindruckt. Als ich etwas später in meinem ersten Semester als Student gemeinsam mit ein paar Kommilitonen über den Uni-Campus lief – abends um acht Uhr auf dem Weg zu unserem „Autonomen Comic-Seminar“, da hatte ich ein Comic-Panel vor Augen aus jener Geschichte von Tardi:
„Um acht Uhr gingen sie gemeinsam zum Boulevard Auguste-Blanqui ins Gewerkschaftshaus, wo der Club der Freidenker eine Diskussion zum Thema: „Wer ist schuldig? Die Gesellschaft oder der Verbrecher?“ veranstaltete. Nach der Konferenz gingen sie ins Heim der Vegetalier und redeten bis spät in die Nacht. Unterbreitete Lenantais seinen Freunden bei dieser Gelegenheit seinen utopischen und großartigen Plan?“
(Fortsetzung folgt)