Die Literatten aus FH
Hinterlasse einen Kommentar17. Februar 2021 von ibohnet
Über unvollendete Projekte, und weshalb das Unvollkommene manchmal unvermutet doch noch zur Realisierung kommt…
In dem Oeuvre eines jeden Künstlers finden sich Fragmente, unvollendete Projekte und skizzenhafte Ideen. Ob Frauen oder Männer, echte Künstlerseelen kritzeln und krakeln in ihrem kreativen Schaffen fleißig vor sich hin, preschen mit Projekten nach vorne, und am Ende realisieren sie davon nur einen ganz kleinen Teil. Vieles bleibt unvollendet und unveröffentlicht liegen.
Ich denke zum Beispiel an einen Filmemacher wie Orson Welles, der tatsächlich ein Großteil seiner Filmprojekte nie wirklich vollenden konnte – aus verschiedenen Gründen, in der Regel ging ihm das Geld aus. Oder auch an den chilenischen Regisseur Alejandro Jodorowsky, der in den 1970er Jahren leidenschaftlich und mit verhältnismäßig großem Ressourceneinsatz unter Einbeziehung einer Vielzahl von weiteren Künstlern, Musikern, Schauspielern usw. an der Realisierung des Science-Fiction Epos „Dune“ des US-amerikanischen Autors Frank Herbert gearbeitet hatte. Jodorowsky konnte sein ambitioniertes Projekt niemals zu Ende bringen. Es gibt eine wunderbare Dokumentation, die sein Vorhaben, seine Ideen, die Teilrealisierungen (von Bühnenbildern bis hin zu Ausstattungsentwürfen und musikalischen Untermalungen) schildern und zeigen, und immerhin wurde auf diese Weise sein Projekt doch noch irgendwie zur Realisierung gebracht hat („Jodorowsky’s Dune“. Dokumentarfilm von Frank Pavich. USA/Frankreich 2013.) Und auch Welles letzter Film mit dem Titel „The Other Side of the Wind“, gedreht in den Jahren 1970 bis 1976, wurde erst 2018, lange nach dem Tod von Welles, fertiggestellt.
Demgegenüber stehen wiederum Altmeister wie Agatha Christie, die in ihrer Schaffenszeit nahezu jedes avisierte Projekt realisiert zu haben scheinen. Absolut wahnsinnig und unfassbar, auch wenn man über die Kreativität oder Originalität der einzelnen Werke im Fall von Agatha Christie streiten kann, allein die Anzahl ihrer Bücher ist grandios (von dem Impact ihrer Geschichten und Bücher auf die Krimiszene ganz zu schweigen).
Wie auch immer, ich will mich hier in keinster Weise mit diesen männlichen und weiblichen Ikonen der schriftstellerischen und filmischen Zunft vergleichen – weit gefehlt. Nicht nur unterscheidet uns (die großen Gestalten oben und meine Wenigkeit) die Strahlkraft und internationale Sichtbarkeit, die bei den erstgenannten dazu führt, dass noch die fragmentarischsten Fragmente dieser großen Gestalten posthum hervorgeholt und der Veröffentlichung zugeführt werden, während meine Fragmente bei dem unbedarften Betrachter nicht mal ein müdes Schmunzeln erzeugen dürften. (Doch wer weiß, welche meiner „Sanddünen“ später untersucht werden wird.)
Jetzt und hier will ich nur ganz bescheiden auf ein abgebrochenes Projekt hinweisen, dass ich im Nachhinein betrachtet doch sehr gerne verfolgt hätte. Und ähnlich wie die Dokumentation über Jodorowskys „Dune“ möchte ich zumindest im Rahmen dieses Blogbeitrags an dieses gescheiterte Vorhaben erinnern, und wenn am Ende bloß ich es bin, der sich erinnern will.
Gemeinsam mit dem Autor und Lektor Carsten Schmidt wollte ich nämlich vor ein paar Jahren im „Café Helga“ in Berlin-Friedrichshain eine Art monatliches Autorencafé eröffnen. Die Idee war, einen Lese-Abend für Freunde der Literatur zu veranstalten, an dem Gastleser (Männer und Frauen) teilnehmen, um anschließend mit dem Publikum über die Lesung zu diskutieren und zu sprechen. Schmidtbohnet sollten durch den Abend führen.
Doch leider konnten wir keines unserer gesteckten Ziele in einer nur annähernd zufriedenstellenden Weise erreichen: Weder wurden wir uns über den Namen einig („Die Literatten aus FH“ befand ich persönlich als einen ganz wunderbaren Titel, um das „Trashige“, den „Quick & Dirty“-Ansatz unserer anti-akademischen Vorlesung kongenial zu unterstreichen, doch glaube ich, dass Carsten von diesem Titel nicht ganz so begeistert war). Noch haben wir wirklich ein für uns brauchbares Format gefunden, um uns beide in Verbindung mit einzuladen Gästen aus der Literaturszene über deren Literatur unterhalten zu können. Schließlich konnten wir nicht den Inhaber des „Cafés Helga“ für unser Vorhaben gewinnen – ich hatte versäumt, ihn rechtzeitig einzuweihen, sodass er recht ungehalten reagierte, als Carsten bei einem unangekündigten Besuch im Café die Fotokamera zückte und ein paar Snapshots machte, um mit mir später Möglichkeiten der Sitzplatzanordnung zu besprechen… Kurz, über ein paar Ideen kam dieses Projekt niemals hinaus. Das finde ich im Nachgang sehr schade, insbesondere in stiller Betrachtung der Fotografie von Carsten und mir – dieses Foto von uns beiden vor dem U-Bahneingang Weberwiese in der Frankfurter Allee, das so vielverspreched aussieht, mag ich sehr gerne. Irgendwie erinnert mich die Geschichte dieses gescheiterten Projekts an meine Polyluktoren, und überhaupt finde ich, dass improvisierte Zusammenkünfte ohne große Vorbereitung einfach großen Charme haben, selbst, wenn sie nicht mal zustande kommen.
Markus ist leider viel zu früh verstorben, dass „Café Helga“ existiert nicht mehr (auch wenn es mit den Betreibern vom „Gegenüber“ würdige Nachfolger bekommen hat), und Carsten Schmidt ist literarisch eigene Wege gegangen. Er lebt inzwischen in Görlitz und ist belletristisch sehr aktiv, worüber ich mich sehr freue (siehe zum Beispiel: „Ausgekafkat: Ein Lebensversuch im Land der Dichter und Denker“, erschienen im Drava Verlag 2018. Oder: „Ach Du Neiße – Görlitz im Selbstversuch“, Epubli Verlag.)
Und ich bin, was mein Schreiben anbetrifft, zurzeit mehr auf physikalisch-kosmologischen Gebiet aktiv: Gemeinsam mit meinem Kollegen und Freund, dem Physiker Thomas Naumann, arbeite ich im Auftrag des KOSMOS Verlags an einer Fortsetzung der „42 größten Rätsel der Physik“. Dennoch kündigen sich auch bei mir neue belletristische Aktivitäten an, arbeite ich doch bereits an einer Weihnachtskriminalgeschichte, die im Winter 2022 erscheinen soll – mehr verrate ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht.
Was lernen wir daraus? Gescheiterte Projekte oder nicht realisierte Projekte gehören zum Tagesgeschäft von Kunstschaffenden. Manchmal sind es tatsächlich unvollendete Ideen, die einfach nicht weiterverfolgt werden. Manchmal ergeben sich unverhofft doch Möglichkeiten, Teile des Projekts in der einen oder anderen Form zu realisieren, oder Ideen aufzugreifen und in anderen Zusammenhängen umzusetzen. Manchmal greift man diese Ideen erst nach vielen Jahren wieder auf. Interessanterweise hat sich das bei mir häufig so ergeben. Die Story meines ersten Kriminalromans „Freitags ist man Fisch“ zum Beispiel hatte ich bereits als Student im Jahr 1989 unter dem Arbeitstitel „Der Taucher“ geschrieben. Das Manuskript lag 20 Jahre in der Schublade, bevor ich es wieder hervorgeholt habe und mit meiner Mutter gemeinsam realisieren konnte – erschienen als Taschenbuch in der ariadne Krimireihe im Argument Verlag. Auch andere Dinge haben bei mir sehr lange gebraucht, um schlussendlich doch in irgendeiner Form realisiert zu werden. Insofern: Wer weiß, vielleicht ergibt sich ja noch mal eine Möglichkeit, ein solches „Literatten“-Café aufzusetzen und zu betreiben, ein Ort, wo Männer und Frauen zusammenkommen, um ihre Geschichten vorzulesen und darüber zu sprechen.