Meine hundert Jahre Radio…

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9. Januar 2021 von ibohnet

Ein verspäteter Ritt durch den Mahlstrom der deutschen Radiogeschichte, von der Reichspost der Weimarer Republik über die autonomen „Freien Radios“ bis hin zu Radio Polyluktova

Ein Jubiläum, das ich schnell noch irgendwie begehen muss: Fast genau vor hundert Jahren, nämlich am 22. Dezember 1920 nahm die deutsche Reichspost der Weimarer Republik ihre erste Radioarbeit auf. Probeweise noch, und zuhören durfte man als Zivilbürger eigentlich nicht, aber damit war unwiderruflich eine neue Zeit angebrochen.

Das ist jetzt hundert Jahre her. Und in diesen hundert Jahren ist in Deutschland und der Welt eine Menge passiert, wie wir wissen, auch mit Blick auf das Radio. Das wurde für die Gesellschaft noch in den 1920er Jahren das, was später das Fernsehen und heute vielleicht das Internet darstellen. Spätestens in den 1930er Jahren erfüllte es staatstragende Funktionen, nicht von ungefähr „schätzte“ Propaganda-Minister Joseph Goebbels das Radio ganz besonders (und missbrauchte es entsprechend). Das Radio blieb auch in der Nachkriegszeit eine tragende Säule des staatlichen Rundfunks (wenngleich unter anderem politischen Vorzeichen), aber ab den 1950er Jahren machte ihm das Fernsehen zunehmend Konkurrenz. Und trotzdem sollte es in den Folgejahren gerade für die rebellierende Jugend noch mal sehr interessant werden.

Mit den Studentenprotesten Ende der 1960er Jahre erhielt auch das Radio eine zunehmend anarchische Komponente. Die Musik wurde wilder, die Mode wurde wilder, die Zeit insgesamt wurde in den „Swinging Sixties“ wilder, was sich vereinzelt auch im Programm einzelner Radiosender widerspiegelte (und vielleicht eher dort als bei den Fernsehanstalten). Und mehr oder weniger zeitgleich mit dem Entstehen einer vitalen Hausbesetzerszene ein paar Jahre darauf schossen auch Piratensender aus dem Boden, zumeist mit links-alternativem Anspruch und stets pedantisch verfolgt von der Bundespost und den westdeutschen Strafermittlungsbehörden (meine kurze Erzählung ist auf die Bundesrepublik Deutschland beschränkt). Deshalb sendeten diese illegalen Piratensender in der Regel bloß in kurzen zeitlichen Intervallen und von verschiedenen, zumeist schwer zugänglichen Plätzen aus (um nicht geortet zu werden). Es gab ein paar legendäre Radiosender in den 1970er bis 1980er Jahren: Radio Dreyeckland, Radio Hafenstraße, Radio St. Pauli, Radio Freies Wendland und so weiter. Und einige davon sind immer noch ab und zu oder inzwischen legalisiert „on air“.

Tatsächlich besaßen die „Freien Radios“ ab den 1970er Jahren bis in die 1990er Jahre hinein einen großen Reiz für die alternative Jugend, boten sie doch die einfachste Möglichkeit, sich subversiv mit großer Reichweite zu artikulieren. Mit dem Aufscheinen des Internets spätestens im neuen Millennium hat diese Form der Artikulation meines Erachtens dramatisch an Attraktivität verloren. Aber noch in den 1990er Jahren hing dem „Freien Radio“ (das in Städten wie Hamburg inzwischen über offene Sendekanäle angeboten wurde), noch der Nimbus des „Anarchischen“ und „Subversiven“ an.

So bin ich Ende der 1980er zum Radio gekommen. Mich faszinierte am Anfang mehr die Elektronik eines Piratensenders und sein „Robin Hood“-Image als die eigentliche Programmgestaltung. Bloß, dass meine Piratensender nie richtig funktioniert haben. Immerhin habe ich darüber den Weg zum legalen „Freien Radio“ gefunden, nämlich zu Radio Loretta, das sich in den 1990ern im Verbund mit anderen Radiogruppen des Freien Sender Kombinats FSK um eine legale Frequenzzuweisung bemühte (die dann schließlich auch Ende der 1990er erfolgte). 

Vom Dogmatismus, den informellen hierarchischen Strukturen und der Unfreiheit in diesen sogenannten „Freien Radius“ möchte ich an dieser Stelle nicht weiter berichten. Nur so viel: Von Pluralismus und konstruktiver Kontroverse war (und ist, wie ich fürchte) in den „Freien Radius“ wenig zu spüren (abseits der Frage, wieviel davon in öffentlich-rechtlichen oder kommerziellen Rundfunkanstalten zu finden ist). Es gilt dort (wie auch in anderen alternativen Szenen, wie der Hausbesetzerszene, in den autonomen Stadtteilkulturzentren und so weiter) oftmals dasselbe verkürzte Motto: »Bist du Teil des Problems oder Teil der Lösung?« Der Radikale ist kraft seiner moralischen Überhöhung unschlagbar. Der Kritische oder Zögernde oder in der politischen Bewertung Unsichere und Schwankende hat in diesen Kreisen stets das Nachsehen, weil er keine klare Vision hat, weil er das Ziel am Horizont nicht erkennt, im Status Quo verharrt, die konforme Sau. Wohin solche apokalyptischen „Endsieg“- und „Auf zum letzten Gefecht“-Utopien führen, hat das 20. Jahrhundert mit seinen totalitären Regimes hinlänglich gezeigt. Doch liegt ihnen ein uralter Konflikt innerhalb der Linken zugrunde, ein Konflikt, der sich seit Karl Marx & Bakunin, Lenin & Stalin & Trotzki, SED & SPD, stets auf ein Neues spinnt – die Frage, wer den Menschen den besseren „rechten Weg“ weist. Jedenfalls habe ich seitdem Angst vor Intellektuellen, die sagen, »wo gehobelt wird, da fallen auch Späne.«

Doch an dieser Stelle genug gejammert, zurück zum Freien Radio. Außerdem will ich nicht undankbar sein. Verdanke ich doch dem Freien Radio eine Auseinandersetzung mit Gesellschaft, Kultur, Kunst und Wissenschaft, wie ich sie unter anderen Umständen vermutlich nicht hätte führen können. Und ich hatte auch tolle Begegnungen mit sehr interessanten Menschen. Insofern ist die Geschichte des Freien Radios in den 1990ern ein klein wenig auch Teil meiner eigenen kulturellen und soziopolitischen Sozialisation.

In meiner Studienzeit habe ich also regelmäßig Radioarbeit gemacht. Das Radiofeature über „Die Grenzen und Optionen der Naturwissenschaft“, eine Produktion vom Hamburger FSK aus dem Jahr 1999, das im Grunde erst 2019 als Helmholtz-Podcast seine Uraufführung erlebt hat, ist vielleicht das schönste Beispiel. Aber auch an die improvisierten jeweils einstündigen Live-Sendungen der Redaktion Technikfolgenverschätzung (von Radio Loretta im FSK) denke ich wehmütig zurück (wenngleich für die Zuhörer dieser Sendungen vermutlich bloß der einminütige, stets gleiche Einspiel-Jingle der Gruppe FSK erträglich war). Später und inzwischen in Berlin erweiterte ich mein Portfolio schlecht vorbereiteter Impros um Lesungen und Veranstaltungen der Polyluktoren (der Name ist abgeleitet von „Polylux“, der DDR-Bezeichnung für Overhead-Projektor). Die Events waren möglicherweise interessant, schräg und originell, aber auf jeden Fall wunderbar freidilettantisch. Bestimmt hat das auch meine spätere Schreibarbeit beeinflusst, insofern bereue ich nichts.

Zufällig bin ich in meinem Archiv über eine Sendung aus dieser Zeit gestolpert, eine Produktion von Radio Polyluktova, an der ich ein klein bisschen mitgewirkt hatte. Eine Hörprobe habe ich vor kurzem auf SoundCloud hinterlegt. Wie gesagt, ziemlich schräg, aber mir gefällt’s…

›Schicksal‹ von Radio Polyluktova aus dem Jahr 2004 (Johannes Ehsan Fischer, Robert Tschuschke, Ilja Bohnet u. a.), die Hörprobe jetzt hier auf Soundcloud! Und ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass dieses Hörspiel dem ›Krieg der Welten‹ von Orson Welles in nichts nachsteht …

http://www.soundcloud.de

Wie entwickelt sich das Radio weiter im 21 Jahrhundert? Im Zeitalter der Digitalisierung und der Übermacht der Multi-Media und Kurznachrichtengesellschaft? I don’t know. Denke ich an Sender wie Deutschlandfunk (DLF) und seine Kultur-Redaktion, wünsche ihm jedenfalls das Beste. Denn Radio bedeutet Sprechen & Zuhören, und das sind die wesentlichen Kommunikationsformen des Menschen …

Zum Abschluss grüße ich Barnie Kaufmann, Bernd Ruhm, Johannes Fischer, Henry Braun, Christian Koslowski, Ole Frahm und die anderen, es hat Spaß gemacht!

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