Wissenschaftsgeschichte – Teil 6
Hinterlasse einen Kommentar25. Mai 2019 von ibohnet
Über die Psychoanalyse zur Relativitäts- und Quantentheorie bis zum Standard-Modell der Teilchenphysik und der Dynamik von Ensembles von Teilchen und Kernen
Zu dem neuen Selbstverständnis in den Wissenschaften trägt nicht zuletzt auch die Psychoanalyse des Sigmund Freud bei, dessen „Traumdeutung“ und weitere Arbeiten zu Beginn des 20. Jahrhunderts internationale Aufmerksamkeit erlangen. Mehr oder weniger zeitgleich mit dieser ersten grundlegenden Auseinandersetzung mit den biologisch-psychologischen Triebkräften des Menschen werden zwei fundamentale Entdeckungen in der Physik gemacht, die erstmalig eine kohärente Grundlage für ein umfassendes wissenschaftliches Weltbild liefern: Die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik. Den beiden Theorien gehen spezielle experimentelle Versuchsergebnisse voraus, die sich mit den klassischen Mitteln der Physik des 19. Jahrhunderts nicht mehr erklären lassen: Und beide Theorien lösen dieses scheinbare erkenntnistheoretische Dilemma durch eine radikale Neuinterpretation der Begriffe Zeit, Raum, Welle und Teilchen. Der Preis dieser Theorien besteht in ihrer Unanschaulichkeit:
- Die Relativitätstheorie, die sich gründet auf Vorarbeiten von Ernst Mach, Hendrik Lorentz und Lucien Poincaré, wurde durch Albert Einstein vervollständigt. Sie macht Aussagen, die sich von der anschaulichen Alltagsvorstellung von Raum und Zeit vollständig lösen. Aus der experimentell ermittelten Erkenntnis, dass die Lichtgeschwindigkeit c eine universale Grenze der Geschwindigkeit ist, die nicht überschritten werden kann, resultiert die fundamentale Einheit von Zeit und Raum. Sie besagt schließlich die Äquivalenz von einer Masse m und der Energie E, ausgedrückt in Einsteins berühmter Formel E = mc^2. Es folgt, dass die Schwere eine Wirkung der Krümmung des Raumes ist. Zeit und Masse sind physikalische Größen, die einen Körper nicht absolut charakterisieren, sondern die vielmehr relativ zu einem Bezugssystem betrachtet werden müssen. Die Theorie liefert den begrifflichen Rahmen für die experimentell beobachtbare Ausdehnung des Universums. Diese begann in einem singulären, d.h. punktförmigen Anfangszustand von unendlicher Verdichtung und Energie, dem Urknall. Noch heute, Milliarden Jahre später, hallt das Echo dieser Explosion in Form einer schwachen Hintergrundstrahlung nach.
- Auch die Theorie zur Beschreibung der Festkörper, Moleküle und Atome, die Quantenmechanik, erhält einen wesentlichen Anstoß von Albert Einstein mit der Interpretation des Lichtes als Korpuskel, als Teilchen. Licht, das als elektromagnetische Welle formal bereits als verstanden galt, besitzt nun in einem anderen physikalischen Zusammenhang auch einen Teilchencharakter. Das mikrophysikalische Geschehen verläuft nicht stetig, sondern sprunghaft (d.h. gequantelt), wie bereits von Max Planck postuliert, dem Entdecker des Wirkungsquantums. Die Quantentheorie, entwickelt von Erwin Schrödinger, Werner Heisenberg und anderen besagt ferner, dass die Natur im Mikrokosmos von statistischer Art ist, also Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung gehorcht. Die strenge Determiniertheit einer klassischen Mechanik wie auf dem Billardtisch gilt demnach hier nicht mehr. Der Beobachtungsprozess verzerrt den untersuchten Vorgang, eine objektive und vollständige Erkenntnis eines physikalischen Sachverhaltes ist sogar unmöglich.
In der Teilchenphysik betrachtet man Systeme aus einigen wenigen Bausteinen. Nehmen wir das Wasserstoffatom, um in der Atomphysik anzufangen, dann besteht das aus einem Elektron und einem Proton. Das Proton besteht aus unserer heutigen Sicht aus drei Quarks. Also wir haben es immer mit einer Handvoll Teilchen zu tun. Die Quarks, wenn man etwas näher hinsieht, sind dann durch Teilchen zusammengehalten, die Gluonen heißen. Aber das ändert nichts an der Vorstellung, dass wir es hier mit ganz wenigen Grundbausteinen zu tun haben. Das Universum in der Zeit nach dem Urknall hatte zwölf verschiedene Bausteine, dazu kommen noch die Antimaterie, also es verdoppelt sich noch mal, und einige Trägerteilchen der Kraft. Aber es sind immer noch sehr wenige, alles das geht in ein kleines Kästchen rein. Ein typischer Kochsalzkristall hat in der Größenordnung zehn hoch dreiundzwanzig Atome (100000000000000000000000), und die haben dann auch wieder ihre Atomkerne und Elektronen und so weiter, sodass da nochmal ein Faktor zehn oben draufsteht, da kommt es auf eine Größenordnung mehr oder weniger nicht mehr an. Man kann nicht zewhn hoch dreiundzwanzig Atome in einer Gleichung explizit jedes einzelne für sich betrachten, man muss Näherungen verwenden. Und zwar Näherungen, die gewisse irreguläre Eigenschaften solcher Systeme nutzen oder mit Konzepten statistischer Mechanik arbeiten, also mit großen Ensembles von Teilchen hantieren. Der aktuelle physikalische Wissensstand der Teilchenphysik ist zurzeit im sogenannten Standard-Modell zusammengefasst. Es besagt unter anderem, dass es nur vier fundamentale Kräfte gibt. Diese vier Kräfte sind formal zu einer Urkraft zu vereinen, das ist das große Ziel der Elementarteilchenphysik. (Albrecht Wagner)
Das grundlegende Experimentierprinzip, auf dem die Erkenntnisse der Teilchenphysik basieren, ist das Streuexperiment. Einen Ausgangspunkt bildet der berühmte Versuch der Physiker Hans Geiger und Ernest Marsden von 1910, der schnell von Ernest Rutherford richtig gedeutet wurde – die Streuung von alpha-Strahlung an einer hauchdünnen Goldfolie, der erstmals eine Vorstellung vom Aufbau der Atome lieferte. Beschleunigerexperimente der Gegenwart gehen in Prinzip auf dieses erste Streuexperiment zurück.
Die Elementarteilchenphysik beschreibt die Wechselwirkung zwischen einzelnen Teilchen. Die Atom-, Festkörper- und Molekülphysik dagegen das Verhalten großer Teilchensysteme.
Man muss sich das vorstellen, als ob in dem einen Fall zwei oder drei Menschen miteinander kommunizieren, während in dem anderem Fall einige Tausend in einem Fußballstadion aufeinandertreffen. Die Cluster-Physik bildet ein Zwischenglied, das die Brücke zwischen den beiden Systemen schlägt. Cluster sind einfach Ensembles von, sagen wir mal fünfzig bis hundert, manchmal auch nur zehn gleichartigen Atomen, die fast noch quasi-individuellen Charakter besitzen, aber worin bereits die Änderungen der Gesetzmäßigkeiten von Vielteilchensystemen erkennbar sind. Ein Cluster bedeutet, bildlich gesprochen, dass man zu zehnt ins Fußballstadion geht, also in einer Gruppe auftritt. Hier kommt wieder ein neues Konzept zum tragen, das den dynamischen Übergang von dem einen System ins andere beschreibt. (Albrecht Wagner)
Dank der technisch-wissenschaftlichen Entwicklung der Physik und ihrer Experimentiermethoden und -instrumente weist auch die wissenschaftliche Bearbeitung komplexer Systeme in anderen wissenschaftlichen Disziplinen unglaubliche Fortschritte und Möglichkeiten auf.
Ohne die Beschleunigerentwicklung, die getrieben war von den Teilchenphysikern, gäbe es heute keine Synchrotron-Strahlung, das heisst leistungsstärkste Lichtquellen. Und ohne die Synchrotron-Strahlung wiederum wäre heute die Biologie aufgeschmissen, denn die Biologie und Biophysik nutzt in einem ungeheuer großen Maß für die Strukturanalyse zum Beispiel von Proteinen die Synchrotron-Strahlung. Die gäbe es nicht ohne die Teilchenphysik und deren Beschleuniger, also hängt das alles miteinander zusammen. Man kann sehr schnell feststellen, dass in der Wissenschaft ein großes Netzwerk von Wissen am Werke ist. (Albrecht Wagner)
(Basierend auf: Grenzen und Optionen der Naturwissenschaft, eine Hörspielproduktion des FSK von Ilja Bohnet & Bernhard Kaufmann mit den Gesprächspartnern Olaf Breidbach (Philosoph, Biologe und Kognitionsforscher), Robert Kudielka (Kunsthistoriker) und Albrecht Wagner (Physiker), Hamburg 1999)
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