Wissenschaftsgeschichte – Teil 5
Hinterlasse einen Kommentar24. Mai 2019 von ibohnet
Vom naturphilosophischen Forschen zur deterministischen Naturwissenschaft
Mit dem Ende des 18. und dem Beginn des 19.Jahrhunderts rückt das Experiment als Grundlage der Naturforschung in den Mittelpunkt. Fortschritte in der Mathematik erlauben, diese als formale Grundlage der Wissenschaft zu beanspruchen. Die Physiologie, ein Teilgebiet der Biologie, die die Lebensvorgänge der Zellen, des Gewebes und der Organe beschreibt, spielt in dieser Zeit eine entscheidende Rolle. Naturforschung entwickelt sich hin zu einer analytischen Wissenschaft, die von einer zunehmenden Detaillierung gekennzeichnet ist. In der Chemie wird das radikale Experimentieren geübt und die Grundlagen für eine Formalisierung des Atombegriffs gelegt. Erstmals werden elektromagnetische Phänomene untersucht, die sich experimentell reproduzieren lassen. Schritt für Schritt wird ein Rahmenverständnis der Naturforschung erschlossen, das auch zu einem historisierenden Verständnis der Welt führt: Es entsteht eine Vorstellung von der Entwicklung des Universums als ein Fortschreiten vom Elementaren zum Zusammengesetzten. Mit der Evolutionstheorie schließlich wird das Leben – sogar der Mensch – in diesen Entwicklungsprozess miteinbezogen.
Aber zunächst existiert noch ein naturphilosophischer Erklärungsanspruch, der die Argumentation und Formalisierung der Naturforschung bestimmt und zum großen Teil dominiert. Die Naturwissenschaften etablieren sich im 19. Jahrhundert ganz explizit gegen diese bestehende, schon sehr differenziert etablierte Theorie eines naturphilosophisch abgesicherten Naturforschens.
Die Ergebnisse der Forschung des 19. Jahrhunderts lassen sich etwa wie folgt zusammenfassen:
- Der Evolutionsbegriff wird durch Charles Darwin formuliert, der die Entwicklung der lebenden Organismen beschreibt und erstmals die Botanik, Zoologie und Physiologie als die Wissenschaft vom Lebendigen, der Biologie, vereint.
- Alle Formen der Materie auf der Erde wie im Kosmos bestehen aus nur 92 chemischen Elementen.
- Wärme ist eine Energieform und bedeutet die ungeordnete Bewegung von Atomen und deren Verbindungen, den Molekülen.
- Elektrische, magnetische und optische Phänomene sind Manifestationen ein und derselben Ursache: Des Elektromagnetismus. Elektrisch geladene Teilchen erzeugen elektromagnetische Felder, die sich in Gestalt von Lichtwellen ausbreiten. Die Einführung des elektromagnetischen Feldes in den mathematisch-physikalischen Formalismus durch Maxwell und die hiermit verbundene Interpretation des Lichtes als Lichtwelle ist einer der bedeutendsten Schritte in der Physik des 19.Jahrbunderts.
Das Interessante ist, dass wir um 1900 dann eine Situation vorfinden, in der zum
einen die Naturwissenschaften selbst sich meinen in der Lage zu sehen, auch die alten “naturphilosophischen“ Positionen auszufüllen, und dann auch versuchen, politische Maßweisungen von ihrer Position heraus zu formulieren. Zum zweiten gibt es auch eine direkt politische Bewegung: das ist der Monismus. Ein von den Inhalten betrachtet relativ heterogener Kontext, der versucht, sich über geometrische Formen und Strukturen zu definieren als eine quasi-religiöse Bewegung. Der Monismus wurde seinerzeit sehr weit rezepiert. Und hier wird von Naturwissenschaftlern mit einem relativ breiten Wirkungscharakter, wie beispielsweise von August Forel, Neurowissenschaftler, oder Wilhelm Oswald, Nobelpreisträger der Chemie, nicht zuletzt Ernst Haeckel, ein in dieser Zeit relativ bekannter Biologe, der Versuch unternommen – auch ganz explizit gegen klerikale Strukturen, eine Art von Wissenschaftskirche aufzubauen, die dann auch von ihren Vertretern in Handlungsnormen im Politischen umgesetzt wird. Sodass wir hier schließlich ein Bild vorfinden, wie Naturwissenschaften auf den Gesellschaftskontext einzuwirken versuchen. (Olaf Breidbach)
Die Naturforschung erlangt aufgrund der Erfolge ihrer analytischen Methode und ihrer Beweiskraft ein neues Selbstbewusstsein, innerhalb dessen sie sich erstmals als „Naturwissenschaft“ begreift. Hieraus leitet sich ein Führungsanspruch ab, der sich in dem Glauben an die Wissenschaft manifestiert, als eine analytisch erfassbare Determinierheit der Welt und der Einheit allen Seins. Diese beruht nun nicht auf dem göttlichen Ursprung des Menschen und der Welt, sondern ergibt sich aus der Erkenntnis in die gesetzmäßige Wirksamkeit der physikalischen Kräfte. Diese holistische Vision prägt die progressiven Tendenzen um die Jahrhundertwende des 19./20. Jahrhunderts und manifestiert sich in bahnbrechenden wissenschaftlichen Entdeckungen ebenso wie in der Kunst und den sozialen Veränderungen.
(Basierend auf: Grenzen und Optionen der Naturwissenschaft, eine Hörspielproduktion des FSK von Ilja Bohnet & Bernhard Kaufmann mit den Gesprächspartnern Olaf Breidbach (Philosoph, Biologe und Kognitionsforscher), Robert Kudielka (Kunsthistoriker) und Albrecht Wagner (Physiker), Hamburg 1999)