Outtakes aus Pleitgens Biografie – Reiseberichte (III)

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19. Dezember 2018 von ibohnet

Das eine oder andere hat nicht Eingang in Pleitgens Biografie gefunden. Darunter manche Perle, die ich nun im Rahmen dieser Blogbeiträge nachreiche.

Heute: Reiseberichte (Teil 3) – Kanada

Ilja Bohnet: Deine vorangegangenen Schilderungen über Australien erinnern mich irgendwie an Kanada, wo du ebenfalls filmisch unterwegs gewesen bist.

Ulrich Pleitgen: Was das Verhältnis Mensch und Natur anbetrifft, gibt es sehr viele Parallelen zu Kanada. Auch Kanada war für mich ein besonderes Erlebnis. Es ist ebenso wie Australien unvorstellbar weitläufig. Auch gibt es ähnlich wie in Australien immer wieder im Land sogenannte Hotpoints, alte Forts, die als Umschlagplätze dienen, wo sich in neuerer Zeit große Firmen und Lebensmittelläden angesiedelt haben, vergleichbar mit den US-amerikanischen Shopping Malls, wo man alles Lebensnotwendige kaufen kann: Werkzeug und Haushaltsgegenstände, Textilien, auch Arbeitskleidung, Polyesterkleider und Nylon, was sich die Frauen an- und unterziehen, wobei sie ansonsten zumeist so rumlaufen wie die Männer. Diese Hotpoints sind gigantische Kauf- Paradiese mit der Gemütlichkeit einer Lagerhalle für Baumschienenteile. Die Güter und Produkte werden in einfachen Kartons in hohen Regalen drapiert, wie bei Lidl, bloß mit noch weniger Charme. Ich kaufte während meines Kanada-Aufenthalts dort manchmal meine Lebensmittel.

Ilja Bohnet: Du hast dort den Film „Amokfahrt zum Pazifik“, eine deutsch-kanadische Produktion unter Regie von Hans Werner gedreht.

Ulrich Pleitgen: Ich durfte in dem Film eine gigantische, kanadische Diesellokomotive fahren. Ich spielte einen eifersüchtigen Lokführer, dessen Frau eine Affäre mit seinem Assistenten begonnen hatte. Mein Gegenspieler wurde von einem jungen Franzosen gespielt. In dem Film habe ich ihn nun auf der fahrenden Lokomotive versucht mich umzubringen. Sehr spektakulär. Entsprechend spektakulär waren auch die Dreharbeiten. Ein schöner Nebeneffekt bestand darin, dass ich diese nordamerikanischen Loks fahren durfte. Der richtige Lokführer saß in der Hocke mit mir zusammen im Fahrersitz, sodass man ihn nicht sehen konnte. Er musste natürlich darüber wachen, dass ich nichts falsch machte. Mit diesen Dreharbeiten ist ein Traum für mich in Erfüllung gegangen. Ich fuhr eine riesen Diesellok, unsere alten Dieselloks aus Deutschland wie die 01 sind Spielzeug dagegen. Und diese Riesenungetüme namens Throatle durfte ich nun selber fahren. Ich musste ein Hebel herumlegen, dann fuhr die Lok schneller, legte ich den Hebel zurück, wurden sie wieder langsamer. Interessanterweise werden die Motoren dieses Dieselloks nie ausgestellt, sie laufen vierundzwanzig Stunden am Tag, dreihundertfünfzig Tage im Jahr und jahrzehntelang.  Nur zu Wartungszwecken werden die Motoren abgestellt, wenn der Motor zum Beispiel überholt werden muss. Wenn man in der Nähe eines solchen Gleiswerks wohnt, wo diese Maschinen stehen, hat man seine helle Freude daran. Es brummt den ganzen Tag, dazu liegt dieser Dieselgeruch in der Luft – herrlich.

Ilja Bohnet: Du musst dort ja auch nicht wohnen.

Ulrich Pleitgen: Gott sei Dank. Mit Umweltschutz hat das natürlich nicht viel zu tun. Was den anbetrifft, gibt es in Kanada ein paar dürre, bärtige Intellektuelle, die auf die technische Problematik dieser Dieselloks hinweisen und verzweifelt mehr Umweltschutz anmahnen, aber ansonsten stört das niemanden. Bei so viel Natur und einem so riesigen Land ist der Umwelt-Aspekt schwer zu vermitteln. Auch die kanadischen Städte sind eindrucksvoll. In meiner drehfreien Zeit habe ich einen Greyhound-Bus genommen und eine der schönsten Städte Nordamerikas besucht: Vancouver, eine der schönsten Städte, die ich mir vorstellen kann. Von den Menschen habe ich dort gar nicht so viel mitbekommen, weil ich mich mehr mit der Stadtarchitektur auseinandergesetzt habe. Eine interessante Mischung aus alter und moderner Architektur: englisch-viktorianischer Baustil, einfach wunderbar. Ich wohnte selbst in einem solchen viktorianischen Hotel. Ich genoss meinen freien Drehtag sehr, während ich so durch die Stadt lief, ließ mich treiben, ging immer weiter und weiter, schaute nach links und nach rechts und erfreute mich an den Gebäuden und an der urbanen Atmosphäre. Nun bin ich auch kein Mensch, der gerne nach Kartenplänen läuft, ich vertraue vielmehr darauf, den Weg irgendwie wieder zurückzufinden. Ein wunderbares Gefühl von Freiheit. Immer, wenn ich irgendwo etwas sah, was mich interessierte, dann lief ich dem nach. Und dann, von einem Moment zum nächsten, war ich plötzlich in einer gespenstischen Umgebung. Als ob nach einem Knall ein Zauberspruch mich irgendwohin versetzt hätte – alles schien total verändert und sehr bedrohlich. Ich war umgeben von mehrstöckigen, alten Häusern, die Fenster waren demontiert, aus den Wohnungen der Häuser quoll Feuerrauch. Wo war ich denn hier gelandet? In einer völlig anderen Welt. Die Umgebung wirkte dunkel und lebensfeindlich. Es war eine Gegend, wie ich später herausfand, in der die Freaks der Stadt leben durften – Drogenabhängige, Alkoholiker und die Homeless People. Der Qualm entstammte offenbar den offenen Feuerstellen im Haus. Ich lief an einer Mauer vorbei, da lehnten acht Menschen nebeneinander wie erstarrt in einer bizarren Haltung. Dünne, ausgemergelte Gestalten. Ich bekam Panik, obwohl mich niemand von ihnen bedrohte. Aber die Situation war so gespenstisch. Und ich fühlte mich plötzlich sehr einsam und verlassen. Die acht Gestalten waren offensichtlich Drogenabhängige und Ttrinker. Ich trat so schnell wie möglich den Rückzug an.

Ilja Bohnet: Something wrong in this picture.

Ulrich Pleitgen: Richtig, und zwar ich. Ich sah zu, dass ich wieder aus dem Viertel herauskam. Ich hatte es kaum verlassen, da hielten zwei motorisierte Polizisten auf ihren Krädern, und ich wurde Zeuge, wie sie einen Mann rüde zurechtwiesen, der das Viertel offensichtlich nicht verlassen sollte. Ich war bis dahin so begeistert gewesen von dem humanen Umgang der Kanadier untereinander, ein so großes Land mit viel Platz und vielen, großen Bäumen, aber hier wurde ich eines Besseren belehrt. Die Polizisten schrien den Mann an, er solle zurück in sein Viertel gehen. Offenbar wurden die Homeless People daran gehindert, in die Stadt zu gehen …

Ilja Bohnet: … sondern angewiesen, in ihrem Drogenghetto zu bleiben.

Ulrich Pleitgen: Absolut, es handelte sich offenbar um ein staatlich sanktioniertes Drogenghetto. Es war zwar nicht hermetisch abgeriegelt, aber dennoch eine vollkommen andere, verschlossene Welt. Ein bizarres Erlebnis, womit der Zauber dieser Stadt verschwunden war, die Stadt irgendwie ihre Unschuld verloren hatte. Ich wohnte während der eigentlichen Dreharbeiten im Regionaldistrikt von Vancouver, in der Nähe eines alten Indianerdorfes der Squamish, die Fahrt nach Vancouver und zurück war entsprechend lang. Der Name Squamish geht auf einen Indianerstamm zurück, die in dieser Gegend auch noch beheimatet sind. Die Indianer sind in Kanada sehr viel besser weggekommen als in den Vereinigten Staaten, die Einwanderer mit der indianischen Urbevölkerung sehr viel besser umgegangen. Nach meiner Sightseeingtour in Vancouver bin mit einem Greyhound-Bus zurückgefahren, es wurde langsam Nacht, und ich erkundigte mich vorsichtig bei dem Busfahrer, wo er denn in Squamish anhalten würde. »Ah, you are living in Squamish?«, sagte der Busfahrer wohlwollend. Ich nickte und nannte ihm den Namen meines Motels. »Yes, okay«, raunte der Busfahrer. Er schien das Motel zu kennen, was mir einleuchtete, denn in Squamish gab es nicht viel: ein Eisenbahnausbesserungswerk, ein paar Indianer, ein paar Weiße, schließlich noch eine Buchhandlung, aus der ich mir öfter Bücher geholt habe, darunter auch ein paar deutschsprachige Bücher. Wie sich dann herausstellte, fuhr der Busfahrer meinetwegen einen riesen Umweg, um mich direkt an dem Motel abzusetzen. Ich fand das unglaublich entzückend.

Ilja Bohnet: Wie war die kanadische Natur?

Ulrich Pleitgen: Unglaublich. Ich hatte ein sehr prägnantes Erlebnis in Kanada mit der Natur und der kanadischen Bevölkerung. Etwas außerhalb von dem alten Fort, wo es diese ganzen unterschiedlichen Läden gab, ist mir etwas ganz wahnsinniges passiert. Eines Tages lief ich durch ein kleines Wäldchen entlang einer kleinen Straße zurück zu meinem Hotel. Ich hatte eine längere Drehpause und einen kleinen Ausflug gemacht. Während  ich diese Straße zurückmarschierte, hörte ich von hinten ein Auto heranpreschen. Ich weiß noch, dass ich mich fragte, ob der Fahres des Wagens mich wohl über den Haufen fahren wollte, so ungestüm raste das Fahrzeug heran. Der Fahrer machte neben mir eine Vollbremsung, der Wagen kam mit quitschenden Reifen zum Stehen und die Beifahrertür wurde aufgerissen. »Step-in! Step-in!«, harrschte mich der Fahrer an und winkte mich hektisch in sein Auto. Ich guckte ihn verwirrt an und schüttelte leicht mit dem Kopf, ich fragte mich, was in aller Welt der Kerl von mir wollte. Wieder schrie er: »Step-in!« Ich war so verwirrt, aber auch eingeschüchtert, dass ich nicht weiter nachdachte und seiner Aufforderung Folge leistete. Kaum saß ich im Wagen, riss er die Beifahrertür zu, aber anstatt mich anzugucken und mir zu erklären, was das alles zu bedeuten hatte, starrte er in die Waldlichtung links vor uns. Ich folgte seinem Blick. Und dann verstand ich: da marschierten uns sechs Bären entgegen – Kragenbären! Echte Brummer. Wenn dieser Autofahrer nicht gekommen wäre, dann stünde ich womöglich für dieses Interview nicht mehr zur Verfügung. Ich war völlig mit den Nerven runter. Aber es war auch ein Abenteuer.

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