Outtakes aus Pleitgens Biografie – Über die Schauspielerei (1.1)

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13. September 2018 von ibohnet

Das eine oder andere hat nicht Eingang in Pleitgens Biografie gefunden. Darunter manche Perle, die ich nun im Rahmen dieser Blogbeiträge nachreiche.

Heute: Über die Schauspielerei (Teil 1.1) – Anthropologisches und über die Verselbständigung von Figuren

Ilja Bohnet: Wieso wird man Schauspieler?

Ulrich Pleitgen: Es ist schon äußerst merkwürdig. Aber seit alters her stellen sich Menschen auf die Bühne, um Theater zu spielen. Ich gehe davon aus, dass es religiöse, spirituelle Ursachen hat. Die Frage ist auch, welcher moralische Anspruch eigentlich dahinter steckt? Ich persönlich habe allerdings keinen besonderen moralischen Anspruch. Klar, ich halte mich für politisch engagiert, um nicht zu sagen: ich bin ein alter Linker, aber dieses dezidiert politisch-moralische Schauspiel hat mich nie wirklich interessiert. Die 1970er Jahre, in denen ich mit der Schauspielerei begonnen habe, waren ohne Zweifel eine sehr politische Zeit. Das Politische entsprach aber dem Zeitgeist, ich selber hatte daran kein vordringliches Interesse. Ich wollte nie auf der Bühne stehen mit einer roten Fahne in der Hand. Dazu hatte ich keine Lust. Auf der Bühne machte es bei mir immer Knips, und ich war Schauspieler. Ich wollte Menschen darstellen. Aber weshalb? Warum lasse ich sie nicht einfach so, wie sie sind? Warum muss ich sie auf einer Bühne künstlich reproduzieren? Das ist eine Frage, die ich mir gar nicht ohne weiteres beantworten kann. Der Mensch stellt sich halt selber gerne dar. Oder er will jemanden belehren. Bertolt Brecht ist dafür ein wunderbares Beispiel. Auf jeden Fall empfand ich von Anfang an eine Faszination bei der Vorstellung, etwas auf die Bühne zu bringen, etwas, das dem realen Leben möglichst nahe kommt, wenn nicht sogar geradezu kongruent ist mit dem Leben.

Ilja Bohnet: Aber das klingt ja fast so, als wärest du nicht immer schon auch sehr politisch gewesen?

Ulrich Pleitgen: Doch, mein Gerechtigkeitssinn, den ich auf dem Internat schulte, hat mich selbstverständlich politisiert. Aber das Politische jener Zeit, in der ich zum Theater kam, war auch dem Zeitgeist geschuldet.Wer nicht links war, der war ein Reaktionär und hatte damals verloren. Und deshalb war ich selbstverständlich auf der Bühne auch links, und einige von uns haben tatsächlich gedacht, wir könnten von der Bühne aus über einen intellektuellen Prozess die Menschheit verändern. Etwas verquast, aber ich finde es toll, dass immerhin solche verrückten Ideen möglich waren. Das zeigt doch, dass wir an einen Fortschritt glaubten. Wobei man natürlich im Grunde nicht weiß, was Fortschritt ist und worin er besteht, aber das ist eine andere Geschichte.

Ilja Bohnet: Worin unterscheidet sich denn der Schauspielberuf von anderen Erwerbstätigkeiten?

Ulrich Pleitgen: Die Ausübung des Berufes hat erst einmal etwas ganz Bürgerliches, da ist nichts Bemerkenswertes dran. Das ist ja auch das Missverständnis, das immer wieder auftritt, denn wenn man genau hinguckt, ist das Leben eines Schauspielers keineswegs mit den Rollen zu verwechseln, die er spielt. Das Alltagsleben eines Schauspielers ist so interessant oder uninteressant wie das eines anderen Menschen. Nur: die Profession ist eine andere. Dieses Vordringen und Eindringen ins Rollenspiel, dieses Kennenlernen von fremden Charakteren und manchmal merkwürdigen Figuren, dieses intensive Kennenlernen von menschlichen Möglichkeiten und Charaktereigenschaften, die unter Umständen auf eine natürlicheWeise gar nicht erfahrbar wären. Durch die intensive Auseinandersetzung mit einer Rolle lernst und erfährst du eventuell mehr über einen Menschen, als es durch eine reale Begegnung mit ihm möglich wäre.

Ilja Bohnet: Hast du ein Beispiel?

Ulrich Pleitgen: Denken wir an Anton Tschechow und das Stück Die drei Schwestern, wasserfeste Herrenmenschen im zaristischen Russland des 19. Jahrhunderts, die auf einem Landsitz fern der Hauptstadt sitzen und sich furchtbar langweilen. Sie sehen und fühlen die Zeit vergehen, und sind ganz unglücklich dabei. Fremde kommen und gehen, Jahreszeiten gehen vorüber, aber nichts rührt sich, dann kommen irgendwann Soldaten, und mit ihnen die Offiziere, das Leben scheint für die drei Schwestern kurz aufzublühen, doch dann ziehen die Soldaten weiter, und die Schwestern sitzen weiter da und sehen zu, wie sich in den Räumlichkeiten Spinnweben ansetzen. Und dann ist das Leben vorbei. Tschechows Kammerspiel ist eine solche Auseinandersetzung, bei der man intensiv Menschen kennenlernen kann, wie sie auf die Tristesse ihres Lebens reagieren, wie sie versuchen, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Bei Tschechow passiert das ohne jegliche „Action“, ohne Aktivität, die Schwestern warten auf das Leben, warten auf die Bewegung, warten auf den Wellenschlag, dass etwas passiert. Dramaturgisch passiert aber gar nicht viel. Deshalb hatte das Publikum seinerzeit auch erst mal seine Probleme mit dem Stück. Der Uraufführung des Stückes war kurz vorher eine Boulevardkomödie vorausgegangen, anschließend wurde dann dieses traurige Stück gespielt: eine wunderbare Kombination. Die Leute müssen aufgeschrien haben vor Empörung.

Ilja Bohnet: Der Schauspielberuf als Auseinandersetzung mit dem Mensch sein?

Ulrich Pleitgen: Genau. Und das Spannendste ist es, die Motivation einer Figur zu finden. Was ist es, was sie antreibt? Wenn ich einen Menschen vor mir habe, in den ich mich hineinversetzen soll, dann versuche ich zu verstehen, wie er denkt und fühlt, und aus diesen Vermutungen mache ich mir ein Bild von der Rolle. Aber überprüfbar ist dieses Abbild selbstverständlich nicht. Das ist verwirrend für den Schauspieler. Ich kann mir zwar eine Biografie von der Figur ersinnen, eine Geschichte konstruieren, die erklärt, weshalb der Mensch so geworden ist, wie er ist, aber ich weiß, es ist ein Konstrukt. Das ist es sehr interessant, denn es gibt tausende von Möglichkeiten, die sich zu einer Figur konstruieren ließen. Aber es bleibt immer auch ein Stück Ungewissheit. Ich will also das Handeln einer Figur, die ich spiele, motivieren. Aber keinesfalls zu aufdringlich. Die Übermotivation finde ich grauenhaft, also Figuren, die linear gestrickt sind und einem strengen Determinismus folgen. Solche Figuren sieht man manchmal in Filmen, die nicht die Zeit haben, um eine Figur aufzubauen. Die Übermotivation trifft man häufig in US-amerikanischen Filmen an. Seltener in französischen Filmen. Auch auch nicht so häufig in englischen Filmen. Die Engländer flüchten sich bei der Beschreibung und Festlegung ihrer Figuren häufig in Skurrilität. Eine normale Figur wird plötzlich völlig skurril. Und du weißt nicht warum. Die Figur dreht plötzlich durch. Bei den Franzosen läuft es häufig noch mal anders. Die drehen einfach bei, erklären das Phänomen nicht weiter. Franzosen sagen halbe Sätze und hören dann kurzerhand auf. »Ich wollte dir sagen, dass …«, und dann dreht sich die Figur einfach um und geht.

Ilja Bohnet: Die Figuren im englischen Film sind skurril, die im französischen fragmenthaft?

Ulrich Pleitgen: Ja, aus dem französischen Film spricht eine unglaubliche Klugheit. Die Franzosen haben eine große Klugheit in der Beurteilung von Menschen, sie wissen, dass die Menschen letztlich nicht zu beurteilen sind. Menschen sind nicht zu beurteilen, sind irgendwie Urschlamm geblieben. Sie haben sich zwar inzwischen verändert, sehen anders aus, möglicherweise sind sie zivilisiert, tragen schöne Kleider und Schmuck und so weiter, verwenden Messer und Gabel bei ihrer Nahrungsaufnahme, alles fein. Aber in ihnen drin wühlt immer noch etwas Unwägbares, etwas, das sich überhaupt nicht verändert hat. Das lässt sich aber nicht beurteilen. Ich lebe damit, dass ich das Gefühl habe, nichts beurteilen, sondern nur etwas verbinden zu können, damit muss ich mich zufrieden geben. Manchmal habe ich das Gefühl, damit sehr weit zu kommen, und manchmal weniger. Manchmal sehe ich Psychologen im Fernsehen, die in Talkshows oder wo auch immer zu den Handlungen bestimmter Menschen befragt werden, zum Beispiel zu einem Menschen, der einen anderen umgebracht haben soll. Und dann fängt der Psychologe an zu reden, zu analysieren und zu interpretieren. Ich glaube, dass diese Art der Psychoanalyse durchaus ihre Berechtigung besitzt. Die Psychologie ist eine Wissenschaft über den Menschen, und die Psychoanalyse hat zweifellos bedeutende Erkenntnisse hervorgebracht. Aber ich persönlich komme damit nicht klar. Sie erscheint mir für meinen Beruf wenig hilfreich. Denn es gibt so etwas wie Instinkt. Und oft gibt einem der Instinkt Recht, wobei ich nicht weiß, was das wiederum schon heißt. Ich weiß nur dass ich nichts weiß. Wir wissen ja, von wem dieser kluge Satz stammt, und bei dem man am Ende eigentlich immer landet.

Ilja Bohnet: Das Ergründen der Figur, das Fischen in den seelischen Abgründen eines Menschen, ohne Gebrauchsanweisung und Anspruch auf deterministische Erklärung.

Ulrich Pleitgen: Wenn man davon ausgeht, entsteht, glaube ich, eine ziemlich produktive Neugier. Und an der kann man auch manches, bescheiden wie man sein sollte, festmachen. Das gilt beim Ergründen einer Rolle genauso wie im richtigen Leben. Wir sollten uns nicht zu schnell ein Urteil erlauben über andere Menschen.

Ilja Bohnet: Was meinst du damit?

Ulrich Pleitgen: Man sollte vorsichtig mit Menschen umgehen, und weniger vor anderen über sie reden oder tratschen. »Der hat aber als Kind schon …« Solche Sätze lieber nicht. Mit diesem Wust an Vorurteilen bewegen wir uns durch die Welt, und viele Entscheidungen werden anhand von Vorurteilen gefällt: Leute werden eingestellt oder rausgeschmissen – häufig nur auf Grundlage von Mutmaßungen. Ich bin mir meiner große Unsicherheit bei der Beurteilung von Menschen sehr bewusst. Und ich kann gut damit leben.

Ilja Bohnet: Vanessa Redgrave soll gesagt haben: »Es ist unmöglich zu schauspielern, wenn man nichts über die menschliche Natur weiß. Man muss sie studieren. Man muss sich selbst erforschen. Herausfinden, wer man ist. Ich studiere die Menschen und mich selbst.« Anthropologie ist also ein Teil des Schauspielberufes.

Ulrich Pleitgen: Sicher, aber ich habe noch nie einen Menschen beobachtet, um Details aus dem Charakter dieses Menschen für mein Rollenspiel zu nehmen. Zumindest nicht gezielt. Die Details, die ich für meine Figuren nehme, stecken größtenteils in mir selbst. Ich muss mich nicht an den Wegesrand legen, um Menschen für mein Rollenspiel zu finden. Mich interessiert stattdessen, innerlich dahin zu gehen, wo ich noch nie war. Zum Beispiel war ich noch nie in einem Zustand absoluter Armut. Ich meine, wirklich nichts mehr zu besitzen als das Hemd am Leib. Aber ich kann es mir vorstellen. Ich kann mir vorstellen, nichts mehr zu haben außer dem Hemd. Ich kann mir vorstellen, nackt am Straßenrand zu sitzen, völlig verdreckt und heruntergekommen wie ein Aussätziger, und die Menschen auf der Straße laufen an mir vorbei und rümpfen die Nase. Ich kann mir das vorstellen und mich in eine solche Person hineinversetzen, weil eine solche Verlorenheit auch irgendwo in mir drin steckt. Was ich sagen will: Du findest fast alles in dir selbst. Ich gehöre also nicht zu den Schauspielern, die sagen, um mich in diese oder jene Rolle hinein zu versetzen, muss ich zu den Wurzeln, muss ich die Arbeit der Figur, die ich spielen soll, kennenlernen. Es gibt zweifellos Rollen, für die man recherchieren muss, das ist trivial. Beispielsweise für das Spiel einer Rolle im Krankenhausbetrieb. Wenn ich ein Arzt spiele, muss ich selbstverständlich ganz konkrete handwerklich-medizinische Fachausdrücke kennen. Mir gegebenenfalls die Handgriffe der Ärzte anschauen und so weiter. Aber für die Psychologie einer Figur bin ich mein eigener Fundus. Und der ist sehr groß, ich könnte auch einen Eskimo spielen. (Lacht)

(Fortsetzung folgt)

 

 

 

 

 

 

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